Auf der Wolke

Die nachfolgende Verse des Matthäus-Evangeliums, so wie sie uns überliefert sind, scheinen dieser Auslegung der Wiederkunft Christi als Offenbarung im Wort zu widersprechen, da es heisst, dass „Sonne und Mond“ ihren Schein verlieren, die „Sterne“ vom Himmel fallen werden, das „Zeichen des Menschensohnes“ am Himmel erscheinen und anschliessend Er Selbst „in den Wolken des Himmels“ mit grosser Kraft und Herrlichkeit erscheinen wird.

Wenn man die mit Anführungsstrichen versehenen Begriffe im materiellen Sinn auffasst wie allgemein üblich, so wäre die Erde in Finsternis gehüllt, am nächtlichen Himmel würden die Sterne durcheinander rasen oder ein Meteorregen auf die Erde niederstürzen, in diesem Chaos würde ein Zeichen am Himmel sichtbar werden, und dann der Herr Selbst zwischen nächtlichen Wolken erscheinen, um die entsetzten Menschen zu richten. Wenn man aber die biblischen Worte bezüglich der Wiederkunft Christi als gleichnishafte Bildersprache für geistige Vogänge auffasst –wie es sein muss- vermitteln sie eine ganz andere Erkenntnis.

Beschränken wir uns einmal darauf, den Symbolbegriff „Wolke“ zu entziffern. Er kommt mehrere Male in der Bibel vor, doch meist nicht im natürlichen Sinn. Beim Durchzug der Kinder Israel durch die Wüste „zog der Herr vor ihnen her des Tages in einer Wolkensäule…“ und bei der Übergabe der Zehn Gebote auf dem Berg Sinai bedeutet die „Wolke“ die geistige Gegenwart Gottes für Sein Volk. In einer Vision Daniels heisst es: „Ich sah in diesem Gesichte des Nachts, und siehe, es kam Einer ‚in des Himmels Wolke‘ wie eines Menschen Sohn bis zu dem Alten und ward vor ihn gebracht. Der gab ihm Gewalt, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker, Leute und Zungen dienen sollten. Seine Gewalt ist ewig, die nicht vergeht, und sein Königreich hat kein Ende.“ (Dan. 7,13+14) Hier wird für das geistige Erscheinungsbild Christi derselbe Ausdruck gebraucht wie bei der Schilderung Seiner Wiederkunft im Matthäusevangelium; doch wer wollte behaupten, dass es sich hierbei um materielle Wolken handelt und nicht um eine symbolische Ausdrucksweise für die geistige Erscheinung Christi?

Im Evangelium nach Lukas ist bezeichnenderweise nicht von „den Wolken des Himmels“ die Rede, sondern von „der Wolke“, und das Wort „Himmel“ fehlt ganz: „Und alsdann werden sie sehen des Menschen Sohn kommen, ‚in der Wolke‘ mit grosser Kraft und Herrlichkeit“ (Luk. 21,27). Diese Ausdrucksweise zeigt deutlich, dass es sich nicht um irdische Wolken am Himmel handelt, sondern dass damit eine geistige Offenbarungsweise ausgedrückt werden soll und der Herr nicht materiell-sichtbar erscheinen wird.

Alle Augen werden Ihn schauen

Auch spricht die Bibelstelle davon, dass die Menschen „des Menschen Sohn“ sehen werden. Viele Christen verstehen dies wörtlich und glauben, dass sie mit ihre materiellen Augen Jesus sehen werden, wie Er vom Himmel herabschwebt.- Würde die körperliche Erscheinung Jesu, die mit unseren materiellen Augen zu sehen wäre, den Glauben der Menschheit an Ihn wecken oder stärken? – Mitnichten. Wenn Christus, mit den körperlichen Augen sichtbar, vom Himmel herabkommen würde, so könnte dies nur ein verschwinden kleiner Teil der Menschheit sehen. Die übrige Menschheit, praktisch die Gesamtheit, hätte dieses Phänomen nicht miterlebt und damit wäre der Überzeugungseffekt von Christi Wiederkunft gar nicht eingetreten. Es würde also wieder darauf ankommen, ob man den wenigen Augenzeugen oder Seinen Worten Glauben schenken würde, mit anderen Worten, es hätte sich wieder die Lage ergeben wir vor mehr als 2000 Jahren.

Damals lebte Christus schon einmal sichtbar unter den Menschen, und man hat Seiner Lehre keinen Glauben geschenkt – eine kleine Mehrheit ausgenommen. Und wenn Er heute für unsere körperlichen Augen sichtbar als Mensch unter uns wäre, würde man Ihn noch weniger beachten als vor 2000 Jahren, denn heute sind die Me3nschen viel zu sehr mit ihrem Kampf um mehr Wohlstand oder mit ihren schweren Problemen der täglichen Nahrungsbeschaffung, mit ihren Machtkämpfen, Intrigen und Kriegen beschäftigt. – Und doch werden die Menschen Ihn sehen. Die einen, welche mit dem geistigen Gesicht begnadet sind, werden Jesus schauen, wie die Jünger Ihn bei der Verklärung auf dem Berg Tabor sahen. Nicht als einen Beweis Seiner Gegenwart –sie brauchen diese Beweise nicht- sondern als Be3lohnung ihres Glaubens und ihrer geistigen Zurüstung. Die andern werden in ihrem tiefsten Innern die Gegenwart Christi in Seinen neuen Offenbarungen spüren. Ihr Geist bezeugt ihnen die Wahrheit Seines Wortes. Und wieder andere, die Mehrheit, werden in ihrem ganzen Wesen erzittern, wenn die schweren Heimsuchungen über sie hereinbrechen werden, die kommen müssen. Dann wird ihnen ihr Gewissen klar vor Augen stellen, dass dies die verheissene Wiederkunft Christi in Seiner göttlichen Gerechtigkeit ist. Dies erleben wird um vieles nachhaltiger sein, als wenn ihre körperlichen Augen „den Menschen Sohn“ gesehen hätten.

Wenn es anfängt zu geschehen

Bei Lukas folgt auf die Verheissung Jesu über seine Rückkehr zur Erde noch der Hinweis: „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, so sehet auf und erhebet eure Häupter, darum dass sich eure Erlösung naht.“ (Luk. 18,8). Der Ausdruck „wenn es anfängt zu geschehen“ zeigt an, dass es sich nicht um ein plötzliches „Weltuntergangsereignis“ handelt, sondern um einen längere Zeit andauernden Vorgang, nach dem die Menschen Ausschau halten sollen. Worum es sich bei diesem Vorgang handelt, erhellt ein weiterer Hinweis Jesu auf Seine Wiederkunft: „Wenn der Menschen Sohn kommen wird, meinst du, dass er auch werde Glauben finden auf Erden?“ (Luk. 18,8). Die Art des Fragesatzes drückt Verneinung aus und lässt darauf schliessen, dass es sich bei Seinem zweiten Kommen ebenfalls um die Verkündung der Wahrheit, Seiner Heilslehre, handelt, und dass die Menschen wiederum aufgrund ihres freien Willens die Möglichkeit der Annahme oder der Ablehnung haben werden, und sie –zumindest was die grosse Masse der Menschen und die sie führenden Vertreter von Kirche, Wissenschaft und Staat betrifft- sich zunächst ebenso ungläubig und ablehnend verhalten werden wie zu Jesu Zeiten.

Im Gleichnis vom Senfkorn (Luk. 13,18), das die Entstehung des Reiches Gottes auf Erden versinnbildlicht, weist der Herr besonders auf die Kleinheit des Amens hin, also auf die anfänglich geringe Wirkung Seines Wortes in der Welt, das „in den Garten“ geworfen wird, also auf die Erde, das heisst vom Himmel auf die Erde herab gesandt wird und zum grossen, allen Vögeln – d.h. Menschen, Schutz und Schatten spendenden „Baum“ wird und damit zur Grundlage des Gottesreiches auf Erden. Denselben Sinn eines allmählichen Wachsens und Eindringens Seines Wortes in das Bewusstsein der Menschheit hat auch das darauf folgende Gleichnis vom Sauerteig.

Der Tröstergeist

Nun ist noch zu untersuchen, was der Apostel Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, zu unserem Thema zu sagen hat, der –wie sein Evangelienbericht erweist- die Lehre Seines Meisters am tiefsten und geistigsten aufgefasst und überliefert hat. Bei ihm sagt der Herr in Seiner Abschiedsrede zu Seinen Jüngern: „Liebt ihr mich, so haltet meine Gebote! Und ich will den Vater bitten, und er soll euch einen anderen Tröster geben, dass er bei euch bleibe ewiglich, den Geist der Wahrheit, welchen die Welt nicht kann empfangen, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr aber kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein. Ich will euch nicht Waisen sein lassen; ich komme zu euch.“ (Joh. 14,26)

Wegen der Bedeutung dieser Verheissung für Seine Nachfolger kommt Jesu in Seiner grossen Abschiedsrede noch mehrmals darauf zurück: „Aber der Tröster, der Heilige Geist, welchen mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch erinnern alles das, was ich euch gesagt habe.“ (Joh. 14,26) Hier erfahren wir, dass dieser Tröster geist oder Geist der Wahrheit der Heilige Geist Gottes ist, der „im Namen“ Christi den Gläubigen auf Erden gesandt wird, um sie alles zu lehren, und ihnen alle Lehren Jesu wieder ins Gedächtnis zu rufen.

…und Geist der Wahrheit

Nachdem Jesus den Jüngern noch einmal Sein Liebesgebot ans Herz gelegt und sie auf kommende Verfolgungen vorbereitet hat, gibt Er ihnen als eine Verheissung nach diesen Verfolgungen die tröstliche Versicherung: „Wenn aber der Tröster kommen wird, welchen ich euch senden werde vom Vater, der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, der wird zeugen von mir. Und ihr werdet auch zeugen; denn ihr seid von Anfang an bei mir gewesen.“ (Joh. 15,26f.) „Aber ich sage euch die Wahrheit; es ist gut, dass ich hingehe (zum Vater). Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch: so ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.“ (Joh. 16,7). Die Voraussetzung dafür, dass der Tröster als Geist der Wahrheit kommt, ist also die Rückkehr Jesu zum Vater. Dies bedeutet, dass dieser Wahrheitsgeist von Christus selbst als dem „Wort“ Gottes ausgeht und Er ihn vom Throne des Vaters aus, in der Einheit mit ihm, Seinen Gläubigen auf Erden senden wird. Denn Er war auch als Mensch der grosse Wahrheitszeuge Gottes, weshalb Er vor Pilatus bekannte: „Ich bin König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.“ (Joh. 18,37)