Gleichnis vom Greisen und den zwei jungen Wanderern

Auf einem Weg befand sich ein Greis von schlichtem und ehrwürdigem Aussehen, der weder Stab noch Reisesack bei sich trug. Unterwegs begegnete er drei jungen Wanderern, deren Herzen froh gestimmt waren und aus deren Kehlen liebliche Lieder erklangen. Der Greis wandte sich an den ersten von ihnen und sprach zu ihm: „Wanderer, Ich habe Hunger, Ich habe Durst und bin dürftig bekleidet; schenke mir etwas von dem, was du in deinem Reisesack trägst, und gib mit ein Stück von deinen Kleidern.“
Der Jüngling suchte in seinem Ranzen und fand weder Brot noch Wasser, und von seinen Kleidern wollte er sich nicht trennen. „Geh zu meinem Bruder“, sagte er zu ihm, „er wird dir wohl geben können, was du benötigst; ich habe nichts, das ich dir anbieten könnte.“

Der Greis wandte sich an den zweiten und bittet ihn in gleicher Weise. Dieser sucht in seinem Reisesack, doch es findet sich in ihm weder Nahrung noch Wasser, das seinen Durst löscht. „Wende dich an den dritten“, sagt der zu ihm, „er wird dir geben, was ich dir nicht geben konnte“. Der dritte sucht auf die gleiche Bitte hin, und seine Antwort ist dieselbe: „Ich habe nichts, um es dir zu geben.“ Da fühlt der Greis Angst, der Durst und der Hunger haben ihn ermattet; doch da er sieht, dass die Reisesäcke der jungen Männer leer sind, spricht er zu ihnen: „Wie wollt ihr diesen Weg, den ich zurückgelegt habe, fortsetzen, ohne zu wissen, was euch erwartet? Der Weg ist lang und mit Disteln und Dornen übersät. Die Felder sind dürr, es gibt keine Bäume, um Schatten zu finden; es gibt keine Früchte, die Sonne ist brennend heiß, und es gibt weder Flüsse noch Quellen, die dem Wandersmann Kühlung bieten.“

Die Wanderer hörten dem Alten zu und sprachen: „Das macht nichts, wir werden weiterziehen, wir sind jung und stark, wir fühlen uns voller Energien und fähig, die Wechselfälle des Lebens hinzunehmen.“ Mit spöttischem Lächeln wollten sie den Greis verlassen, doch dieser sagte zu ihnen: „Wartet, ich rate euch, zuvor etwas für euren Unterhalt zu suchen. Sammelt in eure Vorratstaschen das für die Reise Notwendige, damit ihr diesen Weg zurücklegen könnt, ohne zugrunde zu gehen.“
Nachdem sie den Greis angehört hatten, erwiderten sie: „Wenn du erschöpft, bloß und hungrig bist, so kommt das daher, weil du alt bist, die Anstrengung hat dich müde gemacht. Du hast viele Morgenröten erscheinen sehen und dein Haupthaar ist weiß wie Schnee geworden — deshalb bist du entmutigt. Wir sind jung und fürchten das Leben nicht.“

Da antwortete ihnen der Greis: „Auch Ich war einmal jung und stark, auch ich sang auf den Wegen, hatte Energie in meinem Körper; doch die Zeit lehrte mich und gab mir Erfahrung. Ich will euch zeigen, was ihr durchwandern müsst.“ Und indem er sie auf den Gipfel eines Berges führte, zeigte er ihnen die Welt.
Von hier aus sahen sie, wie sich zur Rechten und zur Linken Stürme erhoben, welche die Nationen peitschten und Zerstörung in ihnen verursachten. Die Wasser des Meeres überfluteten die Lande und die Menschen gingen unter der Gewalt der entfesselten Elemente zugrunde. Die jungen Männer sprachen zu dem Greis: „Was haben wir mit diesen Ereignissen zu tun?“ Doch der Alte antwortete ihnen: „Das, was ihr jetzt seht und was euch betroffen macht, werdet ihr beim Durchwandern dieser Wege erleben müssen.“ Doch jene zweifelten.
Noch einmal sprach er zu ihnen: „Seht hin!“ und zeigte gegen Osten. Dort sahen sie, wie die Nationen sich in einem grausamen Krieg bekämpften. Sie sahen, wie die Mütter und die Söhne weinten und wie letztere ihr Leben auf dem Schlachtfeld verloren und in der letzten Stunde nach ihren Angehörigen riefen. Sie sahen trauernde Frauen, die den Verlust des Gatten oder des Sohnes beklagten, sahen hungernde und nackte Kinder.
Später breitete ein weisser Geist vor ihren Augen seinen Mantel wie Schnee über die verwüstete Erde, und eine herzzerreißende Klage stieg von ihr empor, und wo dieser Geist erschien, wurde das Leben der Menschen abgeschnitten wie das Gewächs auf den Feldern, wenn es Zeit zum Einbringen der Ernte ist. Und die Jünglinge fragten: „Was bedeutet dies alles?“ „Ich zeige euch die kommenden Zeiten“, antwortete der Greis, „Zeiten, die ihr erleben werdet.“

Zuletzt hielt sie der Alte zurück, damit sie schauten, und sie sahen die Naturgewalten entfesselt: das Feuer verzehrte Wälder und Städte, die Seuche hüllte die Menschen wie Nebel ein, die Vulkane spien Feuer und begruben ganze Landstriche unter ihrer Asche. Er zeigte ihnen das Meer, auf dem sich große Katastrophen abspielten: Während einige Meere austrockneten, veränderten andere ihre Lage. Zuletzt sahen sie am Firmament vier Engel mit Posaunen erscheinen, welche die Vollendung der Zeiten verkündigten.

Die Jünglinge waren entsetzt vor Schrecken. Da sprach der Greis zu ihnen: „Seht, jetzt habe ich euch die Ereignisse gezeigt, die kommen müssen und die ihr durchzustehen habt.“

Mit entstelltem Angesicht riefen jene jungen Männer die Natur an — doch diese hörte sie nicht. Doch in dem Augenblicke, da ihr Herz voller Angst und ohne Trost weinte, sprach die Stimme des Alten voll väterlicher Güte zu ihnen: „Verzweifelt nicht, kniet nieder und betet zum Allmächtigen.“ Er streckte schweigend seine Hand aus, und alles war Stille, Ruhe und Frieden. Die Vision verschwand. Sie sahen das Licht eines neuen Tages, und da sie begriffen, dass der Greis diese Ereignisse voraus verkündet hatte, warfen sie sich zu Boden und sprachen: „Wir wollen beten, damit der Vater, der allmächtig ist, unseren Weg bereitet, und wir bis zum Ende unseres Lebens in seinem Lichte wandeln.“ (Ende des Gleichnisses)

Unterweisung 43, 43-50